CLAUS: Frau Müller, LovelyBooks ist eine der bekanntesten social reading Plattformen. Aber was genau ist denn eigentlich social reading?

Marina Müller: Um das zu erklären, wende ich einen Trick an: Ich stelle mir vor, ich muss meiner Mutter das Phänomen social reading in einem Satz erklären. Heraus kommt dann die prägnante Schlagzeile: Lies ein Buch und rede darüber. Das klingt einfach, ist aber auch ungewöhnlich. Lesen ist ja normalerweise etwas, was man gerade nicht gemeinsam tut. Es ist klassischerweise ein in sich gekehrter Akt, man sitzt da, liest für sich selbst und damit hat sich die Sache. Beim social reading wird nun genau der Aspekt des Sozialen hinzugenommen und betont. Ich trage das, was ich gelesen habe nach außen. Das wiederum kann auf verschiedene Weise geschehen. Entweder ich spreche jetzt im Moment mit anderen Leuten über den Text, der mich beschäftigt, oder das ganze geschieht zeitversetzt.

CLAUS: Womit wir bei eurer Plattform wären, auf der genau dieses zeitversetzte Darüber-Reden geschieht.

MM: Genau. Neu ist das Phänomen des social reading sicherlich nicht, LovelyBooks besteht ja bereits seit einigen Jahren. Aber es gibt immer neue Aspekte daran, sodass wir versuchen, uns auf immer neuen Wegen mit dem Thema auseinander zu setzen.

CLAUS: Das Besondere daran ist aber vor allem das onlinebasierte?

MM: So gesehen, ja. Über das reden, was man liest, kann man auch in der U-Bahn, klar. Aber das wäre kein social reading in dem Sinne wie es für LovelyBooks relevant. Gerade durch den Aspekt, dass man online miteinander in Kontakt tritt, ergibt sich das Phänomen erst und ergeben sich auch die Vorteile davon: Die Diskussion wird zum Beispiel zeitunabhängig. Man muss nicht gemeinsam am gleichen Ort sein, man muss auch nicht gleichzeitig online sein, man muss nirgendwo persönlich hingehen.

CLAUS: Aber genau das könnte man doch auch negativ sehen. Zeitunabhängig heißt dann vermittelt und indirekt. Man hat keine Ahnung, wer derjenige ist, mit dem man spricht und wird vielleicht indifferent?

MM: Ich behaupte, das hängt auch vom Buch ab. Je inspirierender ein Buch, desto mehr brennen die Leser für die Themen und dann wird es egal, auf welche Weise diskutiert wird. Wenn das Buch nur dürftig zum Austausch taugt, dann ist dieses Indirekte, Zeitversetzte etwas, das die Diskussion schnell zum Erliegen bringt, ganz klar. Und natürlich: Wer neu dabei ist, der muss sich sicher an die Onlineform des Miteinanders gewöhnen. Aber dadurch, dass diese Form der Kontaktaufnahme in unserer Zeit voll angekommen ist und einfach überall, auf allen Plattformen, auf Facebook, auf Twitter und so weiter geschieht, können wir uns nicht vorstellen, dass diese Form des Austauschs sich negativ für Bücher oder Teilnehmer auswirkt. Im Gegenteil.

CLAUS: Wie läuft also ein social reading event ab?

MM: Unterschiedlich. Insgesamt haben wir etwa 300 Leserunden pro Monat. Die werden zum Großteil von Autoren gestartet, oder auch von Verlagen, die bei uns aktiv sind. Andere wiederum werden von uns zu einem bestimmten Buch, einem bestimmten Thema initiiert und die werden dann intensiv betreut. In allen Runden gibt es Moderatoren, die ein bisschen den Leitfaden vorgeben und darauf achten, dass der Ton freundlich bleibt, aber bei den von uns gestarteten Runden gibt’s dann eine engere Betreuung. Nicht weil wir denken, dass unsere Community nicht nett ist. Die hat tatsächlich einen sehr hohen Anspruch. Die Leute bei uns wollen über den Text reden, Beleidigungen kommen wirklich selten vor. Wenn es so richtig heiße Debatten gibt, dann handeln die rein vom Text und es gibt stichhaltige Argumente aus dem, was geschrieben im Text vorkommt. Und falls der Autor in so etwas involviert ist, dann ist so ein reger Austausch ja auch spannendes Feedback für ihn.

CLAUS: Gehen wir mal in eine Leserunde rein, die von euch initiiert wird. Wie geht’s üblicherweise los?

MM: Am Anfang steht immer ein Startbeitrag. Wir erklären, um welches Buch es geht, wen es als Zielgruppe formuliert, wer Spaß an den Themen hätte. Dann kann man sich eine Woche lang um die Teilnahme bewerben. Dazu gibt es meist eine Bewerbungsfrage, denn wir wollen ja auch, dass nur die sich am social reading beteiligen, die auch darüber reden wollen und echtes Interesse haben. Wer nur das Buch abgreifen möchte, ist bei uns falsch. Dann verlosen wir die Bücher unter den Bewerbern und schicken sie raus. Dann startet die erste Lesephase. Die Bücher sind in einzelne Abschnitte gegliedert,  je nachdem wie umfangreich sie eben sind, sodass man nicht gleich alles lesen muss, sondern die Diskussion schon anfängt, bevor man ganz durchgelesen hat. Dieses Aufteilen trägt auch genau dem Rechnung, dass eben nicht alle am gleichen Ort sind, jeder einen anderen Tagesablauf hat und so weiter. Und sobald der erste Abschnitt gelesen wurde, wird losdiskutiert. Manchmal geben wir Leitfragen vor, falls man neu dabei ist und nicht so genau weiß, wie man in die Auseinandersetzung einsteigen soll, aber in 90% läuft der Austausch von selbst. Im optimalen Fall generiert ein spannendes Buch ja auch einfach den Drang darüber reden zu wollen.

CLAUS: Aber nicht bei jeder Leserunde werden die Bücher neu verlost?

MM: Nein. Jeder User hat ja seine Bibliothek und wer sich gerade im Moment überlegt, dass er meinetwegen Faust lesen und darüber diskutieren möchte, der kann dann eine Leserunde eröffnen und mit anderen in Kontakt kommen, die auch gerade Faust lesen.

CLAUS: Was sicher so kommen wird, immerhin gibt es nächstes Jahr das Festival dazu.

MM: Genau. Und das ist ja auch das Schöne daran. Egal, welche Themen gerade aktuell sind, man kann wieder ein Buch dazu rausholen, es vielleicht zum x-ten Mal lesen, aber neu darüber diskutieren oder auch noch Wochen später die Kommentare in Leserunden nachlesen und sich eine Meinung bilden.

CLAUS: Und was ist mit den Gefahren beim social reading? Ich denke da an das Stichwort des gläsernen Lesers. Wie wertet ihr das Leseverhalten eurer Nutzer aus?

MM: Wichtig ist hier erst einmal zu definieren, was mit Leseverhalten gemeint ist. Was LovelyBooks Nutzer in ihrem Profil angeben, zum Beispiel das Lieblingsgenre oder die Bücher, die sie schon gelesen haben, sagen uns noch lange nichts über Lesegeschwindigkeit oder die Abbruchrate. Wer sensibel entscheidet, ob und welche Bücher er in seine Bibliothek packt, oder wer genau darauf achtet, ob und welche Genres er als Interessen angibt, der wird auch nur Buchempfehlungen erhalten, die ihn wirklich interessieren. Als Unternehmen können wir ja nur verwerten, was der User mit uns teilt. Die Informationen, die die Nutzer aber bei LovelyBooks angeben, geben sie freiwillig an und aus Spaß am Lesen. Klar hilft uns das, mehr über den Lesegeschmack der Nutzer zu erfahren und sie demensprechend personalisiert anzusprechen. Aber wer welche Informationen von sich preisgibt, da ist jeder selbst in der Verantwortung.

CLAUS: Und was wird aus den analogen Leseclubs?

MM: Solange sich Leute zusammenfinden, einen Ort und eine Zeit fix machen können, werden auch die weiter bestehen, da bin ich sicher. Der entscheidende Vorteil beim offline social reading ist, dass es oft Kaffee und Kuchen gibt. Dafür würde auch ich einiges tun.            

CLAUS: Danke für´s Gespräch!