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Die Geschichte des bayerischen Buchhandelsverbands

Bayerns Buchhandel und seine Jubiläen

Schlaglichter zum 125jährigen Jubiläum des Bayerischen Buchhändlerverbandes

Festrede von Prof. Reinhard Wittmann

Nichts versetzt einen deutschen Professor in größere Folterqualen als der Zwang, sich kurz zu fassen. Doch dies war der Pferdefuß der ehrenvollen Einladung, heute die Huldigung der Buchhandelshistorie abzustatten. Was also tun? Im chronologischen Schweinsgalopp in 19 Minuten über 125 Jahre preschen? Im Geiste von Ben Akiba über die ewige Wiederkehr der Probleme im Provinzsortiment räsonieren? Gar, bis Mitternacht kühn überziehend, die Erfolge mehr als eines Säkulums Verbandsarbeit preisen? Nur ein Ausweg schien möglich: wie Firmenjubiläen sind auch Vereinsjubiläen Spiegelbild ihrer Zeit und von deren Problemen. Deshalb hier eine Handvoll Schlaglichter auf Bayerns Buchhandelsorganisation und ihre Jubeldaten.

1879 – ein ehrwürdiges Gründungsdatum? Offengestanden: es war ein peinlicher Spätling. Die munteren Rheinländer und vigilanten Sachsen konnten da schon beinahe ihr Fünfzigjähriges begehen. Noch langsamer als die Bayern waren nur mehr die Ost- und Westpreußen und die Niedersachsen. Tatsächlich war im Wittelsbacher Königreich der Buchmarkt ein recht bescheidener. Die vormals berühmten Frühdruckzentren Augsburg und Nürnberg, die alten Residenzstädte und Universitätsorte hatten nur ebenso traditionsreiche wie altmodische Firmen vorzuweisen. Man produzierte und verkaufte Schul- und Gebetbücher, Jugendschriften und Kochbücher, in Regensburg sorgten Pustet und Manz für die Geistlichkeit, in Nördlingen und Erlangen Beck und Enke für die Juristen und Mediziner. Der Wasserkopf an der Isar hatte sich erst gemächlich auf den Weg zur Buchstadt gemacht. Es gab Protestantisches bei Christian Kaiser und Reproduktionen bei Franz Hanfstaengl, Wissenschaft und Schulbuch bei Rudolf Oldenbourg, Kunstbände fürs Besitzbürgertum bei Friedrich Bruckmann und Georg Hirth. Bemerkenswert rege war dagegen schon das hiesige graphische Gewerbe. Schließlich waren hier Lithographie und Lichtdruck ebenso erfunden worden wie die Netzätzung (Autotypie), die der Presse erst eine aktuelle Bildberichterstattung ermöglichte. Weshalb aber suchten die 55 Gründungsmitglieder auch in Bayern ihr Heil in korporativer Interessenvertretung? Ihre Probleme muten uns heute höchst antiquiert an: steter Ärger mit Ministerien und Behörden im Schulbuchgeschäft, aggressive Schleuderei und Ramschbuchhandel von Großfirmen, hartnäckige Rabattquerelen zwischen Sortimentern und Verlegern. Schon mit dem ersten Vorsitzenden, dem Sachsen-Anhaltiner Theodor Ackermann wurde eine wichtige Tradition begründet: an der Spitze stand, wenn irgend möglich, ein Zugeraster.

Das war offensichtlich ein Erfolgsrezept. Als der Bayerische Buchhändlerverein 1904 mit 137 Mitgliedern seinen 25. Jahrtag beging, waren der Kundenrabatt abgeschafft, die Schleuderei fast besiegt, die Unsitte der Gratis-Beigaben zu Weihnachten und das Gefeilsche bei den Schulbüchern eingedämmt. Dennoch gab sich die Einladung durchaus kämpferisch; der Festakt sollte signalisieren: „Mehr als je gilt es nach außen hin zu zeigen, dass der Buchhandel geeint und gefestigt den Angriffen gegenübersteht, die ihn insbesondere im abgelaufenen Jahre in einer bisher unbekannten Schärfe bedroht haben.“ Naja, das war reichlich übertrieben. Es wogte halt der „Bücher-Streit“ mit Akademikern und Bibliotheken, die ihren Rabatten nachtrauerten und das Sortiment als parasitäres und überflüssiges Zwischenglied schmähten; zugleich hatte ein boshafter Kollege behauptet, die Buchhändler befassten sich „hauptsächlich mit dem Absatz unanständiger Literatur, da diese hoch rabattiert sei“. Doch blieb die Festeslaune ungetrübt. Im prächtig dekorierten Eberlbräu-Keller häuften sich die musikalischen Einlagen, lustige Szenen und Dialektvorträge, unterbrochen durch vaterländische Toasts und Glückwunschtelegramme, allen Teilnehmern spendierte die Großbuchbinderei Oldenbourg eine geschmackvolle Zigarrentasche nebst Inhalt. Es gab guten Grund zur Selbstgefälligkeit: nämlich den geradezu sensationellen Aufstieg Isar-Athens zur Buchstadt. In seiner Janusköpfigkeit von grantigem altbayerischem Beharren und ungestümer Schwabingerei wurde München neben Berlin und Wien zum idealen Experimentierplatz einer europäischen Moderne. Die Rolle der hiesigen Verleger bei diesem kometenhaften Aufstieg Gegen-Berlins zur Metropole einer liberalen, individualistischen Geisteskultur ist schon vielfach beschrieben worden (auch von mir selber) und Ihnen sattsam bekannt. Die Zahl der Verlage in der Stadt verdoppelte sich von 66 anno 1900 auf nicht weniger denn 141 im Jahr 1915. Stolz registrierte man den neuen Ehrentitel der „Stadt mit den drei B's“, des Bieres, der Bilder und der Bücher. 1912 erklärten die Münchner Neuesten Nachrichten in einem längeren Beitrag über München als Verlegerstadt: „Der Grund für das Emporblühen neuer Verlage, für das Herziehen alter, liegt in der geistigen Freiheit, im wissenschaftlichen und literarischen Leben Münchens. Bleibt Leipzig nach wie vor geschäftlich überlegen, so weht sicher dort nicht jene kunstdurchsetzte, frohgemute, alle Keime zu geistiger Arbeit fördernde Luft, wie bei uns. [Jeder Verleger muss außer einem tüchtigen Geschäftsmann auch ein gut Teil Idealist sein, und Idealisten gedeihen in optimistisch-freudigem, freundlich-heiterem, ungezwungenem, echtem Milieu besser, fühlen sich in solcher Luft angenehmer. (...)] Wir wollen keine Bücherstadt werden, keine Stadt der Druckerschwärze und der Fabrikschlote, wir wollen nur aus dem freudigen, wissenschaftlich, künstlerisch und literarisch fruchtbaren Boden Münchens alles erwachsen lassen, was dort sprießen will und es getreulich, freudig hüten und pflegen.“

[In der Isarstadt erschienen vom „Academischen Verlag“ bis zu „Zipperer“ alle Sparten schnell absetzbarer Druckwerke: Alpines und Erbauliches, Bavarica und Militaria, Landkarten und Tarock-Statuten, Schnadahüpfeln und Wahrsagekarten, Schützenfestbilder und Regentenporträts, Salvator-Spezialitäten und Dilettantenlyrik, Briefmarkenkataloge oder Karl-May-Übersetzungen in Volapük und Fotoserien leicht- bis ungeschürzter Turnerinnen und Haremsdamen. Und es gab die zahllosen literarischen Kleinstverleger, ob den „Verlag der Schwabinger Schattenspiele“, den Selbstverlag des Pazifisten Erich Mühsam, den Avantgarde-Verlag von Heinrich F. S. Bachmair mit seinem Jugendfreund Johannes R. Becher, oder auch nächst dem Hauptbahnhof Maximus Ernst, der das Revolutionsblättchen eines gewissen Herrn Meyer druckte - in Wahrheit die „Iskra“ (Der Funke) von Wladimir Iljitsch Lenin. Es gab Alfred Langen und Georg Müller, Reinhard Piper und Oscar Beck und sofort.]

Doch während den Verlegern die Kränze der Buchhandelshistorie geflochten werden, wie stand es mit dem Sortiment? 1912 wurde konstatiert: "Die breite Masse der Ur=Münchener hält nicht viel 'von deana Büachl'n'; ihre Tageszeitung, und wenn es hoch kommt ein Kalender genügt ihr für ihre literarische Neigung. Auch den Gebildeten und Halbgebildeten ist das Buch vielfach noch ein Luxusartikel [...]." Fasching, Bockbiersaison und Oktoberfest hielten vom Erwerb gedruckter Lebens-Surrogate erstrecht fern, sogar das Oster-, Kommunions- und Konfirmationsgeschäft kümmerte, am ergiebigsten war die Touristensaison.

[Alle Buchhandlungen im Zentrum lebten vom Laufgeschäft mit Stadt- und Alpenführern, Reiseliteratur, Landkarten, Bildbänden aller Art, die sie oft im eigenen Kleinverlag herausbrachten, ansonsten aber von Nebeneinnahmen: Inseratenpachten, Devotionalien- und Papierwarenhandel, angegliederte Leihbüchereien oder Lesezirkel, verschämt auch die anrüchige Kolportage.] Immer lästiger wurde die "unzünftige" Konkurrenz des Warenhausbuchhandels: Hermann Tietz gegenüber dem Bahnhof oder Oberpollinger machten enorme Umsätze mit Stapelware. Die Ladenmieten in der Innenstadt waren enorm, bei einem Durchschnittsumsatz von 40.000 Mark blieben einem kleineren Sortimenter vielleicht monatlich 250 Mark. Damit musste dann, so die Klage eines Münchners im Börsenblatt 1914, "der selbständige Buchhändler mit Kind und Kegel auskommen, muss als Geschäftsinhaber Mitglied von 99 Vereinen sein, wird geschröpft bei Wassers- und bei Feuersnot und muss den fröhlichen Geber für Christbaumverlosungen und Schützenfeste spielen." Die tägliche Arbeitszeit im Münchner Sortiment betrug Montag bis Samstag neuneinhalb Stunden im Sommer und neun im Winter, am Sonntag nur zweieinhalb Stunden. Dennoch wetteiferte über ein halbes Hundert Firmen im München der Prinzregentenzeit darin, dem so kaufmüden (und mit miserabler Zahlungsmoral versehenen) Lesepublikum Geistesnahrung aufzudrängen. Da gab es die avantgardistische Buchhandlung des Hans Goltz in der Briennerstraße, aber da gab es beispielsweise auch am Kühbogen die Palmsche Hofbuchhandlung, wo der junge Lehrling Reinhard Piper tätig war.

Er erinnerte sich:

"Der Vertrieb der Neuerscheinungen beschränkte sich auf Ansichtssendungen. Diese erregten ständig den Unmut des Ausgehers Josef, denn er musste die Pakete nicht nur austragen, sondern auch wieder zurückschleppen. Die Ansichtssendungen gingen immer wieder an dieselben Kunden, auch wenn viele von ihnen seit Jahr und Tag kein Buch mehr behalten hatten. Der Chef [August Öhrlein] kümmerte sich fast gar nicht um sein Geschäft. [...] Er kam meist nur mittags eine halbe Stunde. [...] Von Zeit zu Zeit brach seine cholerische Gemütsart durch. In solchen Momenten warf er dem alten Grubert [erster Gehilfe] entrüstet vor: "Unsre alten Kunden sterben und Neie kommen net dazu!" [...] Auf den Ladentischen befanden sich treppenartige Aufbauten, auf deren obersten Stufen jahraus, jahrein dieselben dicken Bücher standen. Diese waren durch das tägliche Abstauben und Hin- und Herschieben nicht besser geworden. Eines Tages bekam Öhrlein einen solchen Band in die Hände und sah die abgestoßenen Ecken. Walther und ich mussten antreten, und zornig rief er uns an: "Wenn's eich raafa wollt's, nehmt's eire Kepf', aber net meine Biacher!"

Nichts mehr war von solch prinzregentenzeitlichem Idyll geblieben beim fünfzigjährigen Jubiläum des Verbandes 1929. Die vor 1914 bewunderte Metropole von Kunst und Lebensfreude, zuvor strahlender Kontrast zu Berlin, galt nun als Hort der finstersten Reaktion. Aus der Asche des abgewirtschafteten Preußentums war der Phönix einer Metropole der Republik, der Demokratie, der auftrumpfenden Modernität gestiegen, doch der gestandenen Traditionalismus, mit dem man die "Entzauberung der Welt" (Max Weber) durch die moderne Industriegesellschaft hartnäckig bekämpft hatte, sah sich nun unversehens reduziert auf einen "renitenten Pessimismus" (Th. Mann). Zum fünfzigjährigen Bestehen im September 1929 hatte sich die Mitgliederzahl auf 350 mehr als verdoppelt (gut als die Hälfte davon waren Münchner Firmen). Der Rahmen war nobel: man dinierte im Hotel Vier Jahreszeiten und konnte beim großen Festakt im Alten Rathaussaal Ansprachen von nicht weniger als zehn Honoratioren lauschen; darunter war neben dem OB Karl Scharnagl, dem Vorsteher des Börsenvereins, dem Generaldirektor der Staatsbibliothek, Vertretern von Universität und Technischer Hochschule auch kein Geringerer als Thomas Mann, dessen laut Berichterstattung recht persönlich gehaltene Grußworte leider nicht im Wortlaut überliefert sind. Doch die Festesstimmung war nach verlorenem Krieg, Inflation und Depression ziemlich gedämpft, was die Ansprache des Vorsitzenden Rudolf Oldenbourg in aller Klarheit konstatierte: "Keine bedeutende Buchhandelsstadt [wurde] durch den wirtschaftlichen Niedergang während und nach dem Kriege so getroffen wie München. Wir dürfen uns nicht verhehlen, dass die Zeiten des Buchhandels in München und Bayern z. Zt. keine goldenen sind. Wohl wissen wir, dass man allenthalben im Deutschen Reich unter dem Rückgang nicht nur der Kaufkraft, sondern auch dem Fehlen der Neigung zu beschaulichem Lesen leidet; trotzdem wäre es töricht zu verkennen, dass gerade in Bayern und seiner Hauptstadt die Verhältnisse besonders schwierig sind. Die Sonne eines Kunst und wissenschaftfreundlichen Hofes hatte gerade die erste Blüte buchhändlerischen Lebens ermöglicht, als der Zusammenbruch kam, die junge Pflanze begreiflicherweise besonders stark treffend; denn noch war nicht jene gewerbliche Käuferschicht genügend entwickelt, die in anderen deutschen Landen der industrielle Aufstieg zum Leben gebracht hatte."

Wenig später wurde die „junge Pflanze“ unter den braunen Stiefeln scheinbar endgültig zertreten. Im Mai 1933 hatte sich der Börsenverein noch beim bayerischen Kultusministerium eilfertig angebiedert, man gehe davon aus, dass „im Zuge der Reinigung und Neubestückung der öffentlichen Bibliotheken mit dem Schrifttum nationaler Haltung“ endlich der ortsansässige Buchhandel zum Zuge komme und die Einkaufsstellen für Volksbüchereien der Vergangenheit angehörten. Doch die Hoffnung, dass die neuen Herren für eine neue Blüte des Buchmarktes sorgten, trog. Man dekorierte zur alljährlichen "Woche des Deutschen Buches" die Schaufenster mit Hakenkreuzfähnchen und Führerbildern, aber hielt unter dem Ladentisch und im Lagerkeller für Stammkunden Schriften verfemter Autoren bereit. Allerdings konnte sich der langjährige Liebhaber von Berliner Asphalterotik als Referent im Braunen Haus entpuppen. Auch Testkäufe galt es zu erahnen, bei denen betont harmlose Zivilisten dringend nach verbotener Literatur verlangten. Statt Verbandspolitik war Gleichschaltung geboten, somit auch die Selbstauflösung des (so der offizielle Name) „ehemaligen Bayerischen Buchhändler-Vereins, jetzigen Bundes reichsdeutscher Buchhändler, Gau Bayern“. Das genaue Datum war übrigens der Verbandshistorie bisher unbekannt. Eine außerordentliche Hauptversammlung am 12. Januar 1936 beschloss einstimmig und ohne Diskussion das Ende des Vereins. Soll man als einzige symbolische Aufmüpfigkeit werten, dass am Beginn der Tagesordnung eine Satzungsänderung stand? Das Vermögen des aufgelösten Vereins nämlich, so wurde einstimmig beschlossen, solle keinesfalls an den Berliner Buchhändler-Unterstützungsverein gehen sondern nur an den bayerischen Gau des BrB.

Der tiefsitzende Affekt gegen die Reichshauptstadt überlebte die braunen Jahre nicht nur, sondern verstärkte sich noch. Der Proklamation des totalen Krieges folgten die Schließung des größeren Teils der Münchner und bayerischen Verlage, Bombenschäden an Bücherlagern und Papiervorräten, Zerstörung von Verlagshäusern und Buchhandlungen. Doch nach der Kapitulation dauerte es kaum vierzehn Tage, als Mitte Mai 1945 der Verleger Horst Kliemann, der Buchhändler Hans Joachim Goltz und der Musikalienhändler Adolf Hieber die Initiative ergriffen und sich als "Arbeitsausschuss für den Bayerischen Buchhandel" um "Überprüfung, Säuberung und Reorganisation des gesamten Verlagsgeschäfts und aller Sparten des Buchhandels" kümmerten. Weitere Verleger wie Desch, Ehrenwirth, Piper kamen bald hinzu, auch einige Sortimenter, die sich allesamt als erwiesene Gegner des Hitlerregimes präsentierten. Natürlich waren die Herren „nicht nur selbstlose Gehilfen der Besatzungsmacht beim mühsamen Geschäft der Demokratisierung des kulturellen Lebens", sondern sicherten sich damit einen möglichst großen Vorsprung vor allen Konkurrenten. Höchst aufschlussreich ist das Memorandum des Ausschusses über Gegenwart und Zukunft des bayerischen und Münchner Buchhandels, das schon im Juni 1945 den amerikanischen Besatzern vorgelegt wurde. Es war quasi das Wiedergründungsmanifest Ihres Verbandes und deshalb des Zitierens würdig.

Nach der berechtigt düsteren Zustandsbeschreibung weitete sich der Vorausblick der Herren ins Grundsätzliche, so auch angesichts des berüchtigten Morgenthau-Planes, aus Deutschland ein Agrar- und Handwerksland zu machen. Ihm sahen sie fürs ländliche Bayern relativ gelassen entgegen, denn: "Der Süddeutsche ist im allgemeinen an sich ein schlechterer Bücherkäufer als der West- und Norddeutsche. Der Süddeutsche ist noch natürlicher, hat nicht so sehr das Bedürfnis, sich in jedem freien Augenblick mit dem Gedanken anderer zu beschäftigen, sondern kann sich noch mit sich selbst beschäftigen." Diese psychische Disposition machte die in sich ruhenden Bayern auch immun gegen die bekanntlich rein preußische NS-Ideologie: "Zielbewusst hatten die Nazis außerdem alles geistige Leben in Berlin zentralisiert, da von Bayern und München aus ein nicht zu überwindender passiver Widerstand vor allem gegen die geistigen Grundlagen der Partei ausging." Die konkrete Nutzanwendung dieser Erkenntnis lag nahe: der "drängende Zuzug deutscher Verleger außerhalb Bayerns nach hier" müsse zu einem Überangebot bei sehr beschränktem Absatz führen. Bekanntlich sei jeder Nazismus dem bayerischen (wie schwäbischen) Stamm zutiefst wesensfremd gewesen ("Dass in München ansässige Verlage, die aber von Nichtbayern geführt wurden, dieser Literatur schon seit vielen Jahrzehnten Heimstatt boten, gehört auf ein anderes Blatt"). Deshalb dürfe der preußische Geist um keinen Preis "auf den einzigen, geistig verhältnismäßig gesund gebliebenen Teil Deutschlands, auf Bayern und Süddeutschland, noch mehr Einfluss gewinnen [...] als bisher. Und das würde geschehen, wenn man zu den ohnehin in München schon reichlich vorhandenen und wohl z. T. auch verbleibenden Verlegern aus dem Westen und Norden weitere zuziehen bzw. neugründen lassen würde. Gewiss würde konservativer Einstellung auch die Tätigkeit kosmopolitischer, auf den Massenmenschen abzielender Verleger nicht genehm sein. Aber sie stellen für absehbare Zeit eine geringere geistige Gefahr dar als die aus dem liberal-nationalen Lager kommenden Verleger, bei denen, selbst wenn sie den Nazismus ablehnten, die Gefahr einer nationalistischen und militaristischen Grundhaltung allzu groß ist.[...] Die durch den weiteren Zuzug aus dem Westen und vor allem aus dem Norden drohende noch stärkere als ohnedies schon vorhandene Überfremdung des bayerischen-süddeutschen Verlages würde das geistige Schaffen Bayerns so stark in den Hintergrund drängen, dass am Schluss München ein Kleinberlin, Bayern bzw. der Süden ein preußisches Großdeutschland á la Miniatur würde. [...] Es ist nicht engstirniger Partikularismus, der diese Zeilen diktiert. [...] Bayern und der Süden muss geistig weitgehend von allen norddeutschen Elementen freigehalten werden, gerade um seiner geistigen und moralischen Aufgabe gerecht werden zu können: im Interesse des Friedens der Welt beizutragen zu einer moralischen und geistigen Gesundung des deutschen Volkes."

Starke Worte – man wird ihnen eine prophetische Gabe, was die völlige Vernordung Münchens und seines Kulturlebens angeht, nicht absprechen dürfen. Doch dieses letzte Rückzugsgefecht des bayerischen Partikularismus endete bekanntlich mit einer vernichtenden Niederlage. Denn es waren nach 1945 zugezogene Verleger, die Münchens Ruhm als Bücherstadt entscheidend mehrten (dass Abgelehnte wie Reclam sich beleidigt in Stuttgart niederließen, haben wir verkraftet).

Tatsächlich war das Tempo des Wiederaufstiegs der Buchstadt und auch des Buchlandes erstaunlich. Schon am 1. März 1946 waren in München wieder 71 Vollsortimente, 19 Reise- und Versandfirmen und 55 Buchverkaufsstellen registriert, denen die Militärregierung verordnete: "An den einzelnen Kunden darf der Buchhändler nur ein Exemplar von jedem Buch verkaufen. Verstöße gegen diese Anordnung haben den sofortigen Entzug der Buchhändler-Registrierurkunde zur Folge. Es ist den Buchhändlern verboten, Bücher zu hamstern oder zurückzuhalten oder durch irgendeine andere Methode den Verkauf an das Publikum und den Umlauf innerhalb des allgemeinen Leserpublikums zu unterbinden."

Nach der Währungsreform wurde aus dem so gut wie risikolosen Absatzmarkt unversehens ein heikler Käufermarkt; in den Fünfzigerjahren freilich normalisierte sich auch dies. Für das Münchner Sortiment war die Ära Adenauer eine "Restaurationszeit" im wörtlichen Sinn - die alten Geschäftsräume wurden wieder bezogen, die ersten Taschenbuchständer misstrauisch aufgestellt, wie vor 1933 insbesondere der gebildete, gutbürgerliche Kunde umworben. 1954 beging der Verband ausnahmsweise nicht in München, sondern in den Würzburger Huttensälen sein 75jähriges Jubiläum auf durchaus bescheidene Weise. Die Festansprache hielt der Dichter Ernst Penzoldt; sein liebenswürdiges, seltsam zeitfernes Feuilleton zum Thema „Der Schriftsteller“ wurde – vielleicht gerade ob seiner Entrücktheit - viel akklamiert. Dagegen war der Ausblick der anonymen schmalen Festschrift deutlich auf Moll gestimmt. Sie endete mit den Worten: “Als dieser Bericht niedergeschrieben wurde, ging eben die Berliner Konferenz der vier Großmächte, die über Deutschlands Wiedervereinigung beschließen sollte, ohne Hoffnung für Deutschland zu Ende. Aber weder lähmende Resignation noch unfruchtbarer Pessimismus sind Lichter auf unserem Zukunftsweg. […] Mögen, wenn in 25 Jahren wieder einmal Rechenschaft über das Vergangene abgelegt wird, des Schicksals Sterne freundlicher glänzen, als sie in den letzten zwanzig Jahren uns geleuchtet haben.“

Die Hoffnung hat sich bekanntlich erfüllt. Das hundertjährige Bestehen wurde so glanzvoll gefeiert wie keines zuvor - merkwürdigerweise allerdings erst 1980. Statt des Jubiläums der Gründung 1879 gedachte man der ersten Hauptversammlung – was da hinter den Kulissen geschah, bleibt im Dunkeln. Das Festprogramm war kräftezehrend: Am selben Tag, dem 13. November fand ab 14.15 die außerordentliche Mitgliederversammlung statt, anschließend begann um 18.00 Uhr die Festveranstaltung, wieder im Alten Rathaus. Wie 50 Jahre zuvor waren die Honoratioren zur Stelle, es sprachen Bürgermeister Zehetmaier, der Verbandsvorsitzende Hans Dieter Beck und Börsenvereinsvorsteher Christiansen ihre Grußworte, der dtv-Chef und geistvolle Essayist Heinz Friedrich begab sich als Festredner auf eine längere „kulturphilosophische tour d’horizon“ namens „Hundert Jahre sind wie ein Tag. Marginalien zu einem Jubiläum“. Feier-Business as usual also? Nicht ganz. Es gab ein deutliches Signal, dass sich die alte Bundesrepublik gewandelt hatte und der Verband mit ihr. Denn zugleich wurde der erste Geschwister-Scholl-Preis verliehen – ausgerechnet an den notorischen Widersprecher Rolf Hochhuth. Das löste im Stadtrat ein vernehmliches CSU-Granteln aus, umso mehr als Hochhuth in seiner unprogrammgemäßen Preisrede verkündete, das Preisgeld an Renate Riemeck, Ulrikes Meinhofs einstige Pflegemutter zu überweisen. Diese Kombination aus staatstragendem Honoratiorentreffen, zugleich aber provokativ-mutiger Preisvergabe an einen Widerständigen war in der Verbandshistorie unerhört. Damit nicht genug der Anlässe: gleichzeitig und deshalb quasi unter Ausschluss der Verleger und Buchhändler wurde auch noch die Münchner Bücherschau eröffnet. Nach alledem musste Minister Maier seinen abendlichen Empfang der Bayerischen Staatsregierung gut eine halbe Stunde hinausschieben. Etwas viel Gefeier in zehn Stunden, befand der Berichterstatter des Börsenblattes, und hielt es auch für beschämend, dass man zur Preisverleihung nur drei Schriftsteller geladen hatte.

Zum erreichten Säkulum legte Georg Ramseger eine schmale Broschüre vor, deren betont schlichtes Layout eher an die Sechziger als an die Achtzigerjahre denken lässt. Kraß ist der Kontrast zum gut zehn Jahre später herausgekommenen PR-Band. Er signalisiert, dass inzwischen ein fundamentaler Umbruch der Öffentlichkeitsarbeit und Selbstdarstellung stattgefunden hatte. Ohne kalendarischen Anlass legte der Verband „in seinem 111ten Jahr!“ einen immerhin 159 Seiten starken Band vor, freilich größtenteils nur halbseitig bedruckt, von der Werbeagentur NETWORK! gestaltet und von einem Micky Maguire gesetzt. Man trat damit („endlich einmal“, wie Joachim Spencker im Vorwort betonte) beherzt, wenngleich modisch aufgemascherlt, über die Branchenöffentlichkeit hinaus, stellte sich in die Geschichte des Bücherlandes und der Bücherstadt, lieferte Verbandschronik, Aufzählung der Dienstleistungen und erstmals ein Mitgliederverzeichnis. Dies geschah, sicher nicht absichtlich, wie im geheimen Rückbezug auf den Pessimismus von 1954, ich zitiere, „in dem Jahr, da die Bedingungen unseres Tuns auf das ganze Deutschland ausgedehnt werden“. Der Band manifestiert Traditionsstolz und Aufbruchstimmung und weist insbesondere die Stiefbrüder und -schwestern in Sachsen fürsorglich darauf hin, dass der Titel des Bücherlandes inzwischen unwiderruflich von Bayern okkupiert war.

Seitdem sind wieder 13 recht durchwachsene Jahre vergangen und der Band wirkt schon wieder als fast historisches Dokument. Der Verband ist inzwischen gelassener, selbstsicherer geworden, ohne an Effizienz einzubüßen. Das zeigt auch die Planung dieses Festes: man hat aus den Erfahrungen des überstrapazierten 100jährigen gelernt. Die euphorischen Zeiten sind vorbei, aber mit 125 Jahren auf dem Buckel hat man die Souveränität des gestandenen, allseits respektierten, dennoch agilen Routiniers erreicht. Statt der Streicheleinheiten eines Oberbürgermeisters gönnt man mäzenatisch einem aufstrebenden Jungschriftsteller die Ehre einer Autorenlesung, Lockerheit und Heiterkeit ist die Devise nach 125 Jahren Überlebenstraining in kürzeren guten, längeren durchwachsenen und einigen wahrlich katastrophalen Zeiten.

Apropos Katastrophen: ernstlich irritiert hat mich die jüngste Mitgliederstatistik des Verbandes. Zwar hat die Zahl der Sortimente in Bayern beharrlich zugenommen, von 486 anno 1990 bis heute 590. Wie kaum verwunderlich ist die Zahl der bayerischen Verlage leicht geschrumpft, auch jene der Münchner Sortimente. Sehr deutlich dagegen fiel der Rückgang der Münchner Verlage aus (ich verzichte angesichts der Festesfreude auf die Zahlen). Das rüttelt an den Grundfesten meines bibliopolischen Weltbildes und meines Lokalpatriotismus, der ich – natürlich weit hinter den Matadoren Saur und Ude - zu den penetrantesten Propagatoren der Isarmetropole als zweitgrößter Verlagsstadt der Welt gehöre! Freilich, aus vielen Einzelfirmen sind Imprinte geworden, andere zogen an Spree und Panke. Auch hat mich Dr. Beckschulte mit dem Hinweis auf statistische Ungereimtheiten zu beruhigen versucht und versichert, wir seien noch immer Vizeweltmeister. Dennoch: das untergründige Rumoren sollten wir nicht überhören. Das Leuchten der Bücherstadt hat zu flackern begonnen. Noch immer ist sie ein Fast-Schlaraffenland für Leser mit Dutzenden von Spezialbuchhandlungen von Anthroposophie bis Zoologie, mit den fast täglich wetteifernden Buchpräsentationen und Autorenlesungen, mit Bücherschau im Gasteig, Frühjahrsbuchwochen, mit dem ein wenig als Älabätsch gegenüber Frankfurt und Leipzig wirkenden, betont internationalen Buchpreis CORINE, und vor allem dem lebendigen Literaturhaus (all dies auch und nicht zuletzt dank der Aktivitäten Ihres Verbandes !). Offenbar fanden und finden die Bücherschreiber, die Büchermacher, Bücherverkäufer und Bücherleser hier (und nur hier) nach wie vor jene spezifische Mischung aus trotziger Tradition und flackernder Neugier, aus kulinarischem Kulturbehagen und bissigem Literatenzynismus, aus nördlichem Kopf und bajuwarischem Bauch, die sie gedeihen lässt.

Die Festredner zum 150jährigen Jubiläum anno 2029 werden zweifellos einen Rückblick auf unsere Generation werfen. Ob mit gerührtem, elegischem oder schmunzelndem Unterton – auf jeden Fall werden Sie Ihnen respektvoll bescheinigen müssen, dass sich der Verband , wie schon 1904, 1929, 1954 und 1980, auch in diesen Krisenzeiten lebfrisch und engagiert gezeigt hat, daß er sein Bestes getan hat, tut und weiterhin tun wird für das Gedeihen des Buches, der Buchstadt München und des Bücherlandes Bayern.

© Prof. Reinhard Wittmann